Michael Schultze, Michael Schultze: Notizen zu DFS Momentum in Berlin (2024)
„How strange a thing is what men call pleasure! How wonderful is its relation to pain, which seems to be the opposite of it! They will not come to a man together; but if he pursues the one and gains it, he is almost forced to take the other also, as if they were two distinct things united at one end.“
Platon: Phaedo / (Dt: Phidias) – der letzte Dialog bevor Sokrates den Schierlingsbecher nahm. Dieser wird aus der Erinnerung von Phidias nacherzählt, dies wiederum erzählt Plato. Ein doppelter Dialog. Klatsch und Hörensagen…
Can we speak with pictures, through pictures? Can we stop asking questions?
platonic verses: platonic deathdrive
Das Primat der Zeit über den Raum (Von Géricault zu Bruce Nauman and back).
Der Ausstellungsraum wird von der Arena überformt und definiert. Es geht augenscheinlich um das Angeblickt-werden und um eine Katharsis, die induziert wird durch den Blick und eine gesetzte Dauer. Dies ist das Dispositiv der Arena, die 2500 Jahre Geschichte der Theatralität in den postindustriellen Raum des DIA Beacon stemmt.
Die Performance scheint wie von xxx Géricault gemalt, ein stehendes Bild, Zeitlupen; multiple Körper die sich in den Raum falten, hierbei immer tastend die Frage stellend: was tun mit diesem Raum?
Noch wichtiger als der Raum scheint jedoch die Zeit, die sich manifestiert in einem zähen Fließen, welches sich konvulsivisch in Ballungen von Körpern zurückzieht. Wartezeit vs. Aktionszeit. Der Raum wird von der Zeit überdeckt, überformt. Die Körper sind mehrfach besetzt, die Nacktheit spiegelt sich in der Leere der Halle, welche nur funktionale Elemente enthält. Diese sind: Die Arena, einige Plakate als Stapel auf dem Boden, Leitplanken, farbige Rohre.
Die Nacktheit der Körper wird von der Zeit vergrößert, die latente sensorische Deprivation, die den Sonntag Nachmittag beherrscht, entblößt die Performer*innen noch mehr. In der Halle produzierten einst Körper von Arbeiter*innen etwas, das längst nicht mehr existiert. Immaterialität durchzieht die Situation, das ganze Setting. Und der Geist des Minimalismus, der die amerikanische Kunst weiterhin im Griff zu haben scheint, zeigt sich als blasses Gespenst. Wer hier lebendig ist fragt man sich: die Körper rufen Historienmalerei auf, sie wollen Körper von Gewicht sein, Teil einer Geschichte, Teil von etwas. Doch Bild und Repräsentation fallen auseinander.
Daran anschließende lose Gedanken, später in der Woche.
Der einst dem Fordismus/Taylorismus geweihte Tempel des Dia Beacon ist durch den Wandel von einer profanen Produktionsstätte in die erhabene/sakrale Sphäre der Kunst von seiner historischen Formatierung befreit. Nichts erinnert mehr an seine ursprüngliche Bestimmung, eine Fabrik für Biskuitverpackungen gewesen zu sein, mit dem klingenden Namen National Biscuit Company Carton Making and Printing Plant. Das Gebäude wurde, um es zu einem Tempel der Kunst werden zu lassen, ausgeweidet wie ein den Schlachthöfen bestimmtes Nutztier, oder ein altägyptischer Pharao….Das DIA ist befreit von dem Gedärm der Maschinen, den Netzwerken der Treibriemen, Kabelbäumen und Produktionsstrassen.
Die Kunst findet ja nun gerne im ausgeweideten Inneren von nutzlos gewordenen Fabriken statt, wie auch in Bahnhöfen oder Kraftwerken, in Hallen des Taylorismus und des Transits, in Räumen, die einst die Kraft einer vergessenen und ein wenig verfemten Revolution bargen, der industriellen Revolution. Organlose Körper sind diese Gebäude nun, in ihnen organlose Räume, die durch die Puppenspielerei der Künstler neu belebt werden wollen (oder sollen?).
Die stärksten Momente der Performance in der Arena war die Herausarbeitung einer Dialektik der Vereinzelung und Kollektivierung durch das Bild der Ballungen oder Bündelungen der Performer*innen. Diese gebündelten Menschenklumpen, eine Einheit beschwörend, bewegten sich durch den Raum und auf der Arena in wellenförmigen Bewegungen, amorphe Gebilde aus Subjekten, die sich in ein organisches Kollektiv verwandelten. Diese Zusammenballungen riefen eine andere Tradition auf: die Choreographie von Historienmalerei, in der Menschen orchestriert eine Überhöhung des Kollektivs im Dienst des Weltgeists der Geschichte durch die Malerei darstellten. Dies vielleicht am deutlichsten in Delacroix‘ „Die Freiheit führt die Revolution an“ oder seinem dystopischen Gegenstück, dem „Floss der Medusa“ von Gericault. Und eigentlich sind wir sehr viel näher an Gericault denn an Delacroix…
Vielleicht sind darum die Ballungen von Performen/TänzerInnen im aktuellen Tanz, in der Performance so beliebt: sie erinnern eben an die hohe Zeit der Historienmalerei, ja vermutlich sind sie unsere Historienmalerei, unser Schwur der Horatier (Jaques Louis David, 1784), unser Floss der Medusa, unsere Krönung Napoleons I von Jaques Lois David (gewendet in die Sozialkritik Menzels?). Die Repräsentation hat das Bild, die Malerei verlassen, die Körper sind nun mit uns im Raum und suchen ihre Bedeutung. Sie jagen die Geister einer verlorenen Zeit, horchen nach den vergessenen Seelen der ehemaligen Bewohner*innen der ausgeweideten Fabriken, den Arbeiter*innen, die ihre Körper dort dem Takt der Maschinen unterwarfen…
Und eine ungeheure Einsamkeit durchweht diese Orte nun.
Michael Schultze